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Indigene Bevölkerung in Argentinien: Ex-Minister will Film zensieren

Über 60 Prozent der Argentinier haben indigene Wurzeln. Dies ist in der kollektiven Wahrnehmung des Landes bisher nicht präsent. Vielmehr definiert sich Argentinien als eine europäische Nation. Noch weniger im kollektiven Gedächtnis verankert ist die Tatsache, dass kurz nach Staatsgründung de facto ein Genozid stattgefunden hat, der in der sogenannten „Wüstenkampagne“ 1878 unter dem Militär Julio Argentino Roca gipfelte. Beeinflusst war der amtierende Präsident Avellaneda vom Buch seines Vorgängers Domingo Sarmiento „Civilización y Barbarie“. Um seine Taten zu untermauern, rief Roca eine sogenannte „Wissenschaftliche Kommission“ ein. Sie klassifizierte Flora und Fauna und auch die indigene Bevölkerung. Diese Geschehnisse sind jedoch bis heute nicht Teil der offiziellen Geschichtsschreibung, die in den Schulen gelehrt wird. Noch immer sind Statuen von Roca im ganzen Land verteilt, eine direkt gegenüber dem Regierungspalast. Die Gründungsmythen der argentinischen Nation bestehen darin, dass ein leeres Territorium besiedelt wurde, und, dass Argentinien ein weißes Einwanderungsland ist.

Der argentinische Schriftsteller David Viñas befand, dass die indigene Bevölkerung Argentiniens die ersten „Vermissten“ des Landes seien. Die argentinische Vergangenheitsaufarbeitung beschränkt sich jedoch auf die Geschehnisse während der letzten Militärdiktatur. Unter dem Diktator Jorge Videla „verschwanden“ in Argentinien rund 30.000 Menschen. Viele Andersdenkende wurden ermordet oder in Konzentrationslager verschleppt. Kinder der Dissidenten wurden in Familien der Militärs gegeben. Aus dem „Prozess der nationalen Organisation“ wurde lediglich ein „Prozess der nationalen Re-Organisation“. Der Designer der schlimmsten argentinischen Diktatur des 20. Jahrhunderts, der auch das neoliberale Wirtschaftsmodell in Argentinien einführte, war der Wirtschaftsminister José Alfredo Mártinez de Hoz. Er entstammt einer alteingesessenen argentinischen Familie. Sein Urgroßvater, José Mártinez de Hoz gründete, zusammen mit Eduardo Olivera, den Verein der Großgrundbesitzer, die sogenannte Sociedad Rural Argentina (SRA), deren erster Präsident er von 1866-1870 war. 

Nun klagt José Alfredo Mártinez de Hoz, Wirtschaftsminister des Ex-Diktators Videla, gegen den Dokumentarfilm Awka Liwen. Da er unter Hausarrest steht, werden seine Enkel tätig, die in Buenos Aires und New York eine Anwaltskanzlei mit Namen Pacbam betreiben. In einer Szene des Dokumentarfilms erklärt Osvaldo Bayer, dass José Mártinez de Hoz, der Urgroßvater des Ministers und Gründer der SRA, Hauptinitiator der „Wüstenkampagnen“ ist, während der die indigene Bevölkerung gewaltsam von ihrem Territorium vertrieben und umgebracht wurde. Der Diskurs wurde mit Bildern unterlegt, auf denen sich der Vater von José Alfredo Mártinez de Hoz auf seinem Landgut befindet. Dieses Filmmaterial hatte die Familie Mártinez de Hoz dem Archivo General de la Nación gestiftet, um es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nun sieht sie sich durch die Aussagen in ihrem Ehrgefühl verletzt und fordert das sofortige Filmverbot, bis alle Verweise (visueller und verbaler Natur) aus dem Film entfernt sind. Außerdem will sie Schadenersatzansprüche geltend machen. Hier kollidiert das Recht auf freie Meinungsäußerung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, zu dem auch die Ehre zählt. Mit der Begründung, die Meinungsfreiheit in Argentinien nicht zu gefährden, wurde die Klage von der ersten Instanz abgewiesen. Wenn es sich um wahre Tatsachenbehauptungen handelt, an denen die breite Öffentlichkeit ein Interesse hat, dann wäre selbst eine (hier nicht vorhandene) Ehrverletzung erlaubt, insbesondere dann, wenn es sich um Personen der Zeitgeschichte handelt, die aufgrund ihrer Profession in der Öffentlichkeit stehen. Die zweite Instanz, der auch Richter angehören, die während der ehemaligen Militärdiktatur Urteile gefällt haben, hat die Klage allerdings angenommen. Das Thema Pressefreiheit scheint auf einmal bedeutungslos zu sein.

In Zeiten der Demokratie müssen auch Handlanger eines Diktators den Weg der Justiz gehen. Doch versuchen sie, diese für sich zu vereinnahmen, um ihre Privilegien zu verteidigen. Den „Aufstand der Reichen“ gab es in Argentinien bereits im Jahr 2008. Bei den „piquetes Benz“ kämpften Landoligarchie und Mittelklasse gemeinsam gegen eine Steuererhöhung für den Export von Soja und Getreide. Der argentinische Gini-Koeffizient lag im Jahr 2005 bei über 0,5 Prozent. Ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt fast alle fruchtbaren Böden des Landes. Awka Liwen ist ebenso ein Film gegen diese, nicht nur in Argentinien präsente, sozioökonomische Ungleichheit, bei der eine kleine Gruppe auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit lebt. Insofern ist Awka Liwen auch ein ganz aktueller Film. 

Obwohl die Rechte der indigenen Bevölkerung in der neuen argentinischen Verfassung aufgenommen sind, finden noch heute Zwangsumsiedlungen, vor allem zum Anbau von Soja und Getreide statt. Dies kann insbesondere deshalb geschehen, weil die indigene Bevölkerung unzureichend geschützt wird. Nach traditionellem Recht besitzen sie keine Landtitel, sondern verwalten ihre Ländereien nach genossenschaftlichen Prinzipien. In einer multipolaren, globalen Welt, lange nachdem die Forderungen nach Entkolonialisierung verhallt sind, machen indigene Bevölkerungsteile auf einmal Ansprüche geltend und berufen sich dabei auf internationales Recht. 

Die negative Reaktion eines José Alfredo Mártinez de Hoz auf Awka Liwen zeigt jedenfalls, dass unser Film ein Tabu in Argentinien gebrochen hat und eine Debatte über die Gründungsmythen dieser Nation angestoßen wurde. Und falls wir Revision vor dem Obersten Gerichtshof einlegen müssen, und auch diese erfolglos ist, dann bleibt uns nur der Weg vor den Interamerikanischen Gerichtshof, mit einer Klage gegen den argentinischen Staat. Würde Dr. Cristina Fernández de Kirchner vorher bei der indigenen Bevölkerung um Vergebung bitten, wegen der Verbrechen, die an ihnen begangen wurden, wie dies Kanada und Australien (erst) 2008 getan haben, dann wäre die offizielle Position der Regierung zumindest klar. Dann wäre unsere Klage eine Klage gegen die, im Demokratisierungsprozess zurückgebliebenen, alten Kader einer Diktatur, von denen insbesondere das argentinische Justizsystem bis heute unterlaufen ist.


Dr. Phil. Kristina Hille ist Co-Drehbuchautorin und Co-Regisseurin von Awka Liwen. Sie arbeitete u.a. zur Konvention 169 für die ILO in Genf/Guatemala, war Fulbright Scholar in den USA und am Massachusetts Institute for Social and Economic Research beschäftigt.